Wunder oder Ausnahmefall? Die Spontanheilung im Fokus
Auch wenn Onkologen erst nach mehreren Jahren ohne erneutes Aufkeimen einer Krebserkrankung von einer dauerhaften Heilung sprechen, ist immer wieder von sogenannten Spontanheilungen die Rede – einem Wunder, wie es der siebzehnjährigen Evie im Roman Abschied für immer und nie* widerfährt. Während ihres vierten Aufenthalts auf der Kinderkrebsstation in Oakland verschlechtern sich die Blutwerte der ehemaligen Cheerleaderin zunehmend. Als der behandelnde Arzt Dr. Jacobs gegenüber Evies Eltern und ihrer Schwester von bereits diagnostizierten Metastasen spricht, lehnt Evie eine weitere Behandlung aufgrund der geringen Erfolgschancen ab.
Um ihr noch einmal für ein paar Stunden die Flucht aus dem Krankenhausalltag zu ermöglichen, planen die an Leukämie erkrankte Stella und der an einem Hirntumor leidende Caleb für Evie einen Ausflug in die Freiheit. Obwohl sie bereits als Todeskandidatin in ein Einzelzimmer verlegt wurde, kommt es zu einer für alle überraschenden Besserung.
Zwischen Genesung und Entfremdung
Nach ihrer Entlassung ist für Evie jedoch nichts mehr wie zuvor. Das ihr von den Eltern und ihrem Freund Will entgegengebrachte Mitgefühl wirkt auf sie erdrückend. Zunehmend fühlt sie sich von allen unverstanden und erhöht eigenmächtig die Dosis ihrer opiathaltigen Medikamente. Der Tod von Stella, die an den Folgen des Ausflugs gestorben ist und für Evie ein Vorbild war, rührt an ihrem Gewissen. Sie flüchtet sich mithilfe der ihr von Stella hinterlassenen Joints in eine Scheinwelt.
Dann trifft sie auf Marcus, der genau das verkörpert, was sie an Will vermisst. Ohne es zu merken, ist sie längst Gefangene in einem zerstörerischen Strudel: Sie vernachlässigt die Schule, lehnt sich gegen ihre Eltern auf und stößt alle vor den Kopf, die sie lieben.
Authentizität durch medizinische Beratung
Für den Roman Abschied für immer und nie* hat sich Amy Reed von Onkologen beraten lassen, die auf Krebserkrankungen bei Kindern spezialisiert sind. Deshalb sind die im ersten Drittel des Buches beschriebenen Szenen – etwa die schmerzhafte Knochenmarkpunktion, die Nebenwirkungen der Chemotherapie und die Notwendigkeit eines Porteinsatzes – besonders authentisch dargestellt.
Zwar werden medizinische Begriffe wie Ewings-Sarkom, Ektomie, Sichelzellenanämie, kavernöser Husten oder Biopsie nicht näher erklärt, doch sind sie für das Verständnis des Romans auch nicht zwingend erforderlich.
Leben nach dem Überleben
Die Autorin zeigt eindrucksvoll, wie sehr sich das Leben eines Menschen verändern kann, wenn er – quasi schon für tot erklärt – als vermeintlich Gesunder aus dem Krankenhaus entlassen wird. Evie, die ihren Leidensweg in der Ich-Form erzählt, empfindet die Angst ihrer Mitmenschen als Gefängnis und die Behauptung, man habe sie vermisst, als Heuchelei. Auch wenn sie lebt, glaubt sie, dass die „alte“ Evie gestorben ist – und nur unter dem Einfluss von Morphium lebt ihre Erinnerung an glückliche Tage wieder auf.
Für wen ist dieser Roman geeignet?
Obwohl die Protagonisten Jugendliche sind und die Sprache der Ich-Erzählerin entsprechend angepasst ist – inklusive einer Teenager-typischen Verliebtheit – kann der Roman Abschied für immer und nie* Gleichaltrigen nur bedingt empfohlen werden, es sei denn, sie sind psychisch stabil. Auch wenn die meisten Menschen nach überstandener Krankheit jeden Tag bewusst genießen und als Geschenk erleben, zeigt der Roman, dass nicht alle mit solchen Erfahrungen umgehen können.
Amy Reed hat einen einfühlsamen, sensiblen und spannenden Roman in einem flüssigen Stil verfasst, der den Leser tief berührt – nicht nur mit Evies Geschichte, sondern auch mit der Frage, was es bedeutet, wirklich zu leben.
Abschied für immer und nie von Amy Reed
Übersetzung von Maike Müller
HarperCollins Verlag 2015
Hardcover mit Schutzumschlag
304 Seiten
ISBN 978-3-95967-010-4