
Der Fund am Spielplatz
An einem eisigen Morgen im Februar wird auf dem Spielplatz neben der Grundschule von Broomsville, einer Kleinstadt am Fuße der Rocky Mountains, die Leiche der fünfzehnjährigen Lucinda Hayes vom Hausmeister der Schule entdeckt. Da in der Nacht Schnee gefallen war, ist die Tote mit einer dünnen Schneeschicht bedeckt, die alle Spuren beseitigt hat. Die Tatwaffe und das Handy des Opfers sind verschwunden, und auch die Befragung der Anwohner liefert keine neuen Erkenntnisse.
Erste Ermittlungen
Bis zum späten Nachmittag hat es der Fall bereits in die landesweiten Medien geschafft. Die Mitarbeiter des Broomsville Police Department versammeln sich im Konferenzraum, um sich auf den neuesten Stand der Ermittlungen bringen zu lassen. Doch die Liste der Verdächtigen ist kurz. Detective Williams, der die Ermittlungen leitet, befragt zunächst den Hausmeister Ivan Santos, der die Leiche gefunden hat, sowie die Eltern des Opfers, Joe und Missy Hayes. Von Joe erhält er den Hinweis, dass Cameron Whitley, ein Mitschüler Lucindas, des Öfteren nachts von Nachbarn gesehen wurde, wie er sich draußen herumtrieb und sie beobachtete.
Mehr als ein Kriminalfall
Um es gleich vorwegzunehmen: Der Roman Girl in Snow* von Danya Kukafka ist keine leichte Kost. Obwohl der Eindruck entsteht, es handle sich um einen klassischen Kriminalfall, spielt der Mord an Lucinda Hayes nur eine nebensächliche Rolle. Über das Opfer und ihre Familie erfährt der Leser nur wenig. „Wer bist du, wenn niemand dich beobachtet?“ lautet der Untertitel – und genau darum geht es in diesem Roman. Die Handlung wechselt permanent zwischen aktuellem Geschehen, Rückblicken und Reflexionen der Figuren, erzählt aus drei unterschiedlichen Perspektiven.
Cameron, Russ und Jade – drei Blickwinkel
Zunächst ist da Cameron Whitley, der Hauptverdächtige. Seine Mitschüler halten ihn für einen durchgeknallten Stalker. Er ist ein begnadeter Zeichner, der Lucinda oft aus dem Gedächtnis porträtiert hat. Das spurlose Verschwinden seines Vaters Lee Whitley hat ihn schwer belastet und zu psychischen Problemen geführt. Oft steht er nachts wie eine Statue in den Vorgärten der Nachbarn und beobachtet sie.
Der Streifenpolizist Russ ist ein ehemaliger Kollege und Freund von Camerons Vater. Zehn Jahre lang sind sie gemeinsam Streife gefahren. Russ hatte Lee versprochen, sich um dessen Sohn zu kümmern. Wenn er sich entscheiden müsste, wäre es ihm lieber, wenn sein Schwager Ivan Santos als Täter überführt würde – nicht Cameron, der seinem Vater so sehr ähnelt.
Und schließlich gibt es Jade Dixon-Burns, siebzehn Jahre alt, Mitschülerin von Lucinda an der Jefferson Highschool. Jade hasste Lucinda, weil diese ihr einen lukrativen Job als Kindermädchen weggeschnappt hatte.
Jades Stimme im Zentrum
Während die Kapitel über Cameron und Russ in personaler Erzählperspektive verfasst sind, erzählt Jade in der Ich-Form. Sie ist die eigentliche Hauptfigur, die nicht nur mit den typischen Problemen eines Teenagers ringt, sondern auch mit einer schwierigen familiären Situation. Ihren ständig abwesenden Vater nimmt sie kaum wahr. Die Mutter hingegen ist eine dominante, oft betrunkene Frau, die ihre beiden Töchter im Rausch verprügelt.
Jade durchläuft einen intensiven Selbstfindungsprozess. Der Mordfall dient dabei lediglich als Rahmen, um den Leser an die Handlung zu fesseln und neugierig auf den weiteren Verlauf zu machen. Genau das gelingt Danya Kukafka in ihrem Debütroman Girl in Snow* auf eindrucksvolle Weise.
Girl in Snow von Danya Kukafka

Übersetzung von Eva Bonné
btb Verlag 2018
Taschenbuch
376 Seiten
ISBN 978-3-442-71660-9