Die Medizinstudentin Vicky lebt mit ihrer Mutter Traude Becker, die als OP-Schwester in der Charité arbeitet, in Ostberlin, studiert jedoch in Westberlin. Sonnabends und in den Ferien jobbt sie in einer Fleischerei. Nach fast fünf Jahren ist es für sie und ihre Studienkollegen der letzte Sommer, bevor alle eigene Wege gehen werden. Die Familie ihres Freundes Achim leistet sich eine großzügige Wohnung, da sein Vater als ehemaliger russischer Agent eine einflussreiche Position im Ministerium von Erich Mielke bezieht. Längst ist Achim wegen seiner politischen Gesinnung im Elternhaus nur noch geduldet.
Nach einem gemeinsamen Abend mit ihren Freunden ziehen sich Vicky und Achim zurück. Auf seine Frage, was sie von der Ehe hält, geben sich beide das Versprechen, direkt nach dem Examen und Doktortitel zu heiraten. In ihren Träumen sehen sie sich als Ärzte in der Charité. Nach einer Liebesnacht bietet sich Achim an, Vicky mit dem Fahrrad nach Hause zu begleiten. Verwundert sehen sie Volkspolizei an den Grenzübergängen, und Vicky kommen die Fragen anderer an diesem Abend in den Sinn, die sie immer wieder auf Probleme beim Grenzübertritt angesprochen haben. Achim wird nun auch klar, warum sein Vater an diesem Abend Bereitschaftsdienst hat.
Angesichts der wachsenden Mauer bewahrheiten sich Vickys schlimmste Befürchtungen, ihr Studium in Westberlin nicht abschließen zu können. Vergeblich hat sie auf eine Ausnahmegenehmigung gehofft und muss sich stattdessen am Fließband in der Produktion bewähren, während Achim auf die Beziehungen seines Vaters pfeift und lieber auf dem Bau arbeitet. Als man die beiden vom Studentenwerk mit jeweils falschem Pass über die Grenze schmuggeln will, nehmen sie das Angebot an. Nach geglückter Flucht drängt Achim, das Aufgebot zu bestellen, doch mag Vicky nicht ohne ihre im Osten verbliebene Mutter heiraten. Entgegen ihrer Bitte, nicht als Fluchthelfer zu agieren, fühlt sich Achim den Helfern verpflichtet und kehrt von einer Tour nicht zurück.
Erst nach der Hälfte des Romans Lebensträume* gibt es für den Leser ein Lebenszeichen von Achim, der dann unvermittelt wieder Teil des Geschehens wird. Bis dahin schreibt Svea Lenz, wie sich Vicky in einer vom Patriarchat dominierten Welt durchschlagen muss. Nur durch Zufall fällt ihr die Chance in den Schoß, noch zwanzig abzuleistende Monate in der Medizinalassistenz am Frankfurter Rhein-Main-Flughafen zu absolvieren. Oberarzt Dr. Raumund Bockeloh und Chefarzt Dr. Frommer bereuen nicht, sie eingestellt zu haben. Einzig Oberpfleger Ansgar macht ihr das Leben schwer, schikaniert und degradiert sie. Für ihr Vorhaben, die Sanitätsstelle zu einer Flughafenklinik auszubauen, wie sie tatsächlich heutzutage mit der Notfallambulanz im Medical-Center existiert, scheut die couragierte junge Frau keine Mühen und wendet sich sogar an den Ministerpräsidenten. Doch was ihre große Liebe anbelangt, hat sie auch noch nach vier Jahren nichts von Achim gehört.
Ob es zu Informationen der Musik- oder Filmgeschichte geht, um Rassendiskriminierung, Pockenepidemie, den Massenmörder Jürgen Bartsch, Anwerbeabkommen für Gastarbeiter, Einführung eines Mutterpasses oder verschüttete Bergleute in Lengede, die Autorin erinnert an so vieles: Da gab es die auf Rudi Dutschke, John F. und Robert F. Kenney abgefeuerten Schüsse sowie den Tod von Benno Ohnesorg und Che Guevara. Doch auch damit ist das Wissensspektrum von Svea Lenz noch nicht erschöpft: Sie weiß vom Siegeszug der Pille, der Contergan-Katastrophe und der Anfang der 60er Jahre entwickelten Temperaturkurve mit Bestimmung des Zervixsekretes zur Verhütung. Besonders aufschlussreich sind ihre Recherchen zum Galli-Mailini-Test vor Entwicklung immunologischer Schwangerschaftstests, dem aus einer Luftpumpe umgebauten Werkzeug zum Herbeiführen eines Aborts sowie dem rund um das Hymen entstandenen Aberglauben, dem gerade in den arabischen Ländern so viel Bedeutung beigemessen wird.
Wer schon einen sorgenvollen Blick auf eine harmlose Blutentnahme wirft, ist mit dem Roman Lebensträume* nicht gut bedient. Denn dass es die Protagonistin an ihrem Arbeitsplatz neben allen an einem Flughafen vorkommenden Krankheiten und Verletzungen auch mit schweren Autobahnunfällen zu tun hat, bei denen es zwangsweise blutig zugeht, versteht sich von selbst. Svea Lenz ist mit dem Plot quasi die Quadratur des Kreises gelungen, indem sie eine schier unglaubliche Menge an Fakten und Zeitgeschehen in ihre Rahmenhandlung eingebaut und damit einen höchst spannenden, informativen und unterhaltsamen Roman geschaffen hat.
Lebensträume – Ärztin einer neuen Zeit von Svea Lenz
Goldmann Verlag 2025
Klappenbroschur
608 Seiten
ISBN 978-3-442-49494-1