Wie real ist unsere Wirklichkeit?
Nachdem sich Flynn Darkster, Gründer von Security Consulting in Kanada, trotz Warnung seiner Stellvertreterin Emily Carter für eine Challenge in das Pentagon gehackt und dazu Umwege über Kapstadt, Riad, Beirut und Ankara bis Arlington in Kauf genommen hat, endet seine Suche nach einem Loch in der Firewall mit „wir haben dich“. Ihm wurde eine Falle gestellt! Schon am nächsten Morgen wird er mit seinem Team von einer Spezialeinheit unter der Leitung von Smith gefangen genommen. Neben Flynn und Emily wird von dem schon in den 1970er Jahren mit Computern arbeitenden Rudy und dem erst vierzehn Jahre alten „Wunderkind“ Arvid des Teams erwartet, dass sie die russischen und chinesischen Computersysteme infiltrieren und den Quellcode der Cyberwaffen finden. Wallace, Sonderbeauftragter des geheimen Projekts Laurin in North Carolina, lässt verlauten, dass eine globale Katastrophe wegen des Schmelzens des antarktischen Schelfeises und Anstieg des Meeresspiegels droht, die es zu verhindern gilt.
Trotz strenger Trennung und Überwachung finden die vier eine Möglichkeit des Datenaustausches und sehen einen Zusammenhang von einer ebenfalls im Institut in North Carolina gefangen gehaltenen Frau, bei der das Verteidigungsministerium anhand von Untersuchungen auf einen ominösen „Riss“ zu stoßen glaubt. Von Dr. Hannah Tambey betreut, scheint es ihr sehr schlecht zu gehen, weshalb die Ärztin von Wallace unter Druck gesetzt wird, schnellstens diesbezügliche Ergebnisse in Erfahrung zu bringen. Für die Suche nach einem Genesis-Algorithmus erhält Projektleiterin Hannah Unterstützung von Jota, einer hoch entwickelten Maschinenintelligenz mit eigenem Bewusstsein.
Andreas Brandhorst beginnt seinen Thriller mit dem Geschehen der später von Dr. Hannah Tambey betreuten Alma Salome, die am Entwurf für eine Halle in Madrid arbeitet und jede Nacht von ihrem in der Zukunft fertiggestellten Gebäude träumt, von dem sie herunterstürzt. Als sie eines Morgens sogar Kratzer im Gesicht und an den Armen feststellt, die sie sich nicht erklären kann, wird sie kurz darauf auf der Straße von einer Frau angesprochen und nach einer Berührung am Hals ohnmächtig verschleppt.
In dem Plot vermischen sich wissenschaftlich fundierte Fakten aus der Physik, der Welt des Internets und Hackens sowie Erkenntnissen zur künstlichen Intelligenz mit übernatürlichen Phänomenen wie an Glas erinnernde, durchsichtig werdende Hände. Während Flynn in einem abgedunkelten Zimmer in Florida sitzt, wird plötzlich „aus der Finsternis hinter seinen Lidern die Nacht von Madrid“. An anderer Stelle beobachtet Smith, wie Angehörigen des Triumvirats Flügel wachsen und wie Engel durchs All schweben. Wiederholt bewegen sich Menschen mit einem rund 300 Stundenkilometer rasenden Aircar durch die Lüfte, wobei über den Handlungszeitpunkt spekuliert werden darf.
Was die Protagonisten anbelangt, die das Security-Team um Flynn unter ihre Kontrolle gebracht hat, gibt es vom Autor keine Erklärung zu deren Privatleben. Haben sie Familien, zu denen sie nach der Arbeit im Institut zurückkehren? Was ihre Gefangenen betrifft, ist von Übernächtigung die Rede, aber es ist nichts über ihre Mahlzeiten bekannt. Zu gegebener Zeit löst sich für den Leser das Rätsel, wer sich hinter der Gestalt des Mannes verbirgt, den Alma stets in ihren Träumen hinter ihrer offenen Terrassentür sieht, und auch Mermaid, die Konkurrentin der Challenge von Flynn, hat im weiteren Handlungsverlauf noch einen Auftritt.
Der Autor erinnert in seinem Thriller Der Riss* an die Massenpanik am 1. November 2012, bei der in der Madrid-Arena fünf Menschen bei einer Halloween-Party umkamen. Ein umfangreiches Glossar zeugt von weiteren Recherchen, die Andreas Brandhorst auch in seiner Danksagung nicht unerwähnt lässt. Ein Abenteuer jagt in dem von Anfang an neugierig machenden Thriller Der Riss* das nächste, Jäger werden selbst zu Gejagten und Flynns Odyssee geht bis Kolumbien. Am Ende bleibt der Leser mit seinen eigenen Gedanken zurück und stellt sich die Frage, ob unsere Wirklichkeit lediglich eine von einem komplexen Simulationsprogramm geschaffene virtuelle Realität ist, was durchaus ernst zu nehmende Physiker in Erwägung ziehen. Immerhin liefert die Wissenschaft keinen Beweis für das Gegenteil.
Der Riss von Andreas Brandhorst
Heyne Verlag 2024
Hardcover mit Schutzumschlag
640 Seiten
ISBN 978-3-453-27482-2