Tunnel von Grit Krüger

TunnelMascha Heerdmann lebt allein mit ihrer siebenjährigen Tochter Tinka, die sie Mücke nennt, von einer Unterstützung vom Amt. Weil sich an den Fenstern bereits Eisfedern gebildet haben und das Geld für die hohe Rechnung des Heizöls fehlt, bauen sich die beiden in der Wohnung eine Höhle, in die sie sich verkriechen. Nach einer Vorstellung im Pflegeheim Residenz kann Mascha dort arbeiten. So sehr Tinka auch bettelt, dass sie noch ihre Hausaufgaben machen muss, erklärt ihr Mascha, dass sie die Schule am nächsten Tag einfach ausfallen lassen und stattdessen mit zu ihr ins Heim kommen soll, wo es schön warm ist. Bis der Platz für neue Bewohner gebraucht wird, dürfen sie dort sogar wohnen. Als Enders, ein guter Bekannter von Mascha, seine Bleibe verliert, bringt sie ihn heimlich ebenfalls in einem der freien Zimmer unter und versorgt ihn mit übrig gebliebenem Essen.

Dem Heimbewohner Tomsonov fällt, durch seine Neugier getrieben, im Keller eine Wand auf, die er daraufhin mit einer Hilti bearbeitet. In den wenigen Pausen hilft ihm Mascha, der das nicht verborgen bleibt, das Loch zu vergrößern. Immer weiter arbeiten sie sich in einem Tunnel vor, der als Ausgang in die Freiheit dienen soll. Denn auch Mascha beabsichtigt nicht auf Dauer, die Arbeit in der Residenz zu verrichten, sondern nur so lange, wie sie das Geld für die Heizkosten, das Ferienlager und eine Fortbildung zusammen hat.

Grit Krüger nennt in ihrem Roman Tunnel* keinen Ort der Handlung. Was das Privatleben von Mascha und ihrer Tochter betrifft, ist auch nicht bekannt, wo der Vater des Mädchens ist und wie sie die letzten Jahre gelebt haben. Umso deutlicher wird die aktuelle Situation, in der Mascha von einer Mitarbeiterin des Amtes erfährt, dass ihre Leistungen gekürzt werden, wenn sie keine Bewerbungen schreibt. So lebt sie mit ihrer Tochter in bitterer Armut, denn das Geld hätte nicht einmal für ein Pausenbrot in der Schule gereicht. Tinka musste während der Sportstunde schon einmal auf der Bank ausharren, da sich die Mutter keine Turnschuhe für ihr Kind leisten konnte. Im Plot fragt Tinka jemand, wo man sich Turnschuhe ausborgen könnte, und bei jeder Gelegenheit verlangt sie Geld für eine Auskunft, um die Gebühr für das Schlittschuhlaufen zusammen zu bekommen.

Über das Verhältnis zwischen Enders und Mascha erfährt der Leser ebenfalls nichts. Sie selbst nennt ihn immer nur den Tröster. Wie im Plot an einigen Stellen angedeutet, ist er wohl früher zur See gefahren und kam dann zur Arbeit in einem Braunkohleabbaugebiet mit Ehefrau und Kind in einem hellhörigen Betonklotz unter. Später hat er in der JVA eingesessen. Wie lange und wofür und wo Frau und Kind geblieben sind, bleibt allerdings im Verborgenen. Zur vorübergehenden Wiedereingliederung, so wurde ihm zumindest versichert, sollte er als Minijobber auf einem Parkdeck für Ordnung sorgen, wo er auch Mascha kennengelernt hat.

Die Handlung des Romans Tunnel* ist fast ausschließlich im Pflegeheim angesiedelt, wo Grit Krüger den Alltag der Pflegekräfte anhand von Einzelschicksalen deutlich macht. Wer noch im Besitz seiner geistigen Kräfte ist, fühlt sich von seinen Angehörigen hintergangen, die ihnen versichert haben, dass es doch nur übergangsweise ist. Die Pflegekräfte müssen die teilweise unangenehmen Gerüche aushalten und die Bewohner füttern, wobei ihnen für deren Morgentoilette kaum genug Zeit bleibt, da sie sich stets beeilen und mehr Tempo zulegen müssen, denn alle Handlungen sind minutiös durchgetaktet. Wenn ihnen ein Bewohner etwas aus seinem Leben erzählen möchte, hören sie gar nicht richtig hin. Anders als Tomsonov, der sich geduldig die immer selbe Geschichte von Elfi Küff anhört, die im Krieg ihren Bruder vor den Franzosen warnen wollte.

Grit Krüger beginnt ihren Roman mit einer gewöhnungsbedürftigen Einführung ihrer Protagonistin Mascha, was bei vielen Lesern sehr wahrscheinlich zum spontanen Leseabbruch führen dürfte. Glücklicherweise ändert sich der Stil, wenn die Autorin auch weiterhin oft nur mit angedeuteten Hinweisen arbeitet. Das Interesse am Fortgang der Handlung nimmt ständig zu und anders als die Heimbewohner, denen nur ein vorübergehender Aufenthalt vorgegaukelt wurde, hinterlässt der Plot keinesfalls nur einen vorübergehenden Eindruck dieses sehr eindringlichen und einfühlsamen Romans.

Tunnel von Grit Krüger

Tunnel
Kanon Verlag 2023
Hardcover mit Schutzumschlag
220 Seiten
ISBN 978-3-98568-063-4

Bildquelle: Amazon
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