Schwestern wie Ebbe und Flut von Thesche Wulff

Schwestern wie Ebbe und FlutDie in Hamburg wohnende Mira lässt sich mit der Fähre zur Taufe ihrer Nichte nach Amrum übersetzen. Mit gemischten Gefühlen betritt sie neben dem Apartmenthaus ihrer Schwester Anke das ehemalige Kapitänshaus, das sie nach dem Tod ihres Patenonkels Ocko von ihm geerbt hat und erinnert sich an ihre früheren Besuche und seine Geschichten. Zurück in Hamburg, erhält Mira vier Monate später von Anke einen Anruf: Ein Orkan hätte das Dach des Kapitänshauses abgedeckt und den Schuppen zerstört. Die vom Wind hinterlassene Unordnung wäre ihren Gästen nicht zuzumuten. Sollte Mira nicht sofort nach Amrum kommen, würde das alte Haus abgerissen.

Mira bleibt nichts anderes übrig als sich freizunehmen und das Treibgut aus dem Schuppen einzusammeln, so, wie sie es als Kind mit Ocko auch immer gemacht hat. Dabei fällt ihr ein Weidenkorb in die Hände, der sie an die Geschichte ihres Onkels erinnert, in der er einst diesen Korb mit einem Baby darin liegend aus dem Wasser gerettet haben will. Obwohl Ocko alle Fundstücke penibel in ein Buch eingetragen hat, kann Mira ausgerechnet über den Weidenkorb keinen Eintrag finden. Wie alle anderen haben auch ihre Eltern diese Geschichte stets für „Seemannsgarn“ gehalten, doch Mira ist von dem Gedanken hin- und hergerissen, dass zumindest ein Körnchen Wahrheit darin stecken könnte. Was wäre, wenn das alles mit ihrer eigenen Geschichte zusammenhängt?

Thesche Wulff hat ihren Roman „Schwestern wie Ebbe und Flut“ in drei Handlungssträngen geschrieben. Neben dem aktuellen Geschehen, das Mira betrifft, gibt es Kapitel, in der die achtzigjährige Friede Seemann eine Rolle spielt. Sie putzt nicht nur ohne Steuerkarte des nachts bei einem Anwalt, sondern hilft auch noch in einem Frühstückscafé aus und jobbt als Babysitterin. Als sie von einem Auto angefahren wird, verzichtet sie auf jegliche Hilfe und springt, ohne zu zögern, in einen Kanal, um ein Baby zu retten, dessen Kinderwagen sich selbstständig gemacht hat. Ein dritter Handlungsstrang reicht bis ins Jahr 1948 zurück: Die kleine Josefine wird von ihrer Mutter verlassen, die vorgibt, den mit seinem U-Boot während des Krieges verschollenen Vater zu suchen. Notgedrungen kümmert sich die Großmutter um das Mädchen, das jedoch in den Folgejahren zunehmend von den Verwandten als billige Arbeitsmagd ausgenutzt wird. Josefine opfert sich auf in der Hoffnung, nur als artiges Kind eines Tages die Mutter wiederzusehen, was beim Leser unweigerlich Mitgefühl erzeugt.

Mira hat zu ihrer Schwester Anke, die mit Niels verheiratet ist und nach den Jungen Bendix, Drefs und Claas endlich mit Elin eine Tochter zur Welt gebracht hat, ein angespanntes Verhältnis. Sie fühlt sich von Anke unverstanden, wobei diese der Meinung ist, dass Mira keine Ahnung vom Leben auf Amrum hat. Mira schwelgt in Erinnerungen an die Zeit, die sie mit Ocko auf der Insel verbracht hat. Besonders aufgewühlt haben sie die Worte von Niels Großmutter Klärchen, die stets von Wiedergängern spricht und sich geheimnisvoll äußert, wenn sie zu Mira sagt, sie sei die Einzige, die zuhört „was die Wellen sagen. Was die Fluten verbergen, verschlingen“.

Der Roman „Schwestern wie Ebbe und Flut“ beginnt ganz harmlos mit einer Taufe, zu der sich die Familie auf Amrum versammelt. Durch die Kapitel, die von Friede Seemann und der aus den Bergen stammenden Josefine handeln, erhält der Plot eine vereinnahmende Dynamik, die den Leser an den weiteren Handlungsverlauf fesselt. Gerade auch deshalb, weil er auf die Zusammenhänge dieser drei scheinbar nichts miteinander verbindenden Geschichten neugierig ist. Dank der Erzählkunst von Thesche Wulff kann der Leser diesen überaus intelligent ausgeklügelten Roman zu Bildern in seinem Kopf umsetzen, die ihn noch länger beschäftigen.

Schwestern wie Ebbe und Flut von Thesche Wulff

Schwestern wie Ebbe und Flut
Droemer Verlag 2023
Hardcover mit Schutzumschlag
400 Seiten
ISBN 978-3-426-28409-4

Bildquelle: Droemer Verlag
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