Die Unsterblichen von Chloe Benjamin

Die UnsterblichenMehr oder weniger aus Langeweile gehen die zwischen sieben und dreizehn Jahre alten Geschwister Varya, Daniel, Klara und Simon Gold im Jahr 1969 zu einer Wahrsagerin, von der behauptet wird, dass sie sogar das Todesdatum weissagt. Obwohl die Kinder einerseits wissen, dass niemand ihren Todeszeitpunkt vorhersagen kann, hat keiner von ihnen den angekündigten Tag aus seinem Gedächtnis gelöscht. Als Varya und Daniel später das Elternhaus für ein Studium verlassen haben, kommen die Geschwister zur Beerdigung ihres Vaters Saul wieder in New York zusammen. Allen ist klar, dass Klara, die es in die Welt zieht, sich nicht um ihre Mutter Gertie kümmern wird. Das soll neben der Übernahme der väterlichen Schneiderei Simons Aufgabe werden. Doch sein größter Wunsch ist es, seine schwule Veranlagung in San Francisco auszuleben und so folgt er als erst Sechzehnjähriger seiner Schwester Klara in den Westen von Amerika.

Während sich Simon zunächst erfolglos um einen Job bemüht, erhält er schließlich als Tänzer in einem Schwulenviertel ein Angebot und lernt beim Ballettunterricht den schwarzen Robert kennen. Die unstete Klara versucht mit diversen Jobs die Haushaltskasse aufzubessern. Nachdem sie ihr Talent als Akrobatin und Zauberkünstlerin entdeckt hat, trifft sie auf Raj, der sie zugunsten einer Karriere zu einem Umzug nach Las Vegas überreden will. Daniel, der immer schon den Wunsch hatte zum Militär zu gehen, findet als Arzt in der Musterungsstelle der Armee eine Anstellung, und Varya schlägt sich als Molekularbiologin am Institut für Altersforschung durch. Auf unterschiedliche Weise wird jedem die Prophezeiung zum Verhängnis.

Chloe Benjamin hat in ihrem bemerkenswerten Roman „Die Unsterblichen“ den Lebensweg jedes einzelnen der vier Geschwister in eine in sich abgeschlossene Geschichte gepackt, auch wenn immer wieder Bezüge untereinander einen Rahmen bilden. Ohne Tabus thematisiert sie die körperliche Vereinigung zweier Männer, wobei sie auch mehrfach den schwarzen und zum damaligen Stadtrat von San Francisco gehörenden Harvey Milk erwähnt, der sich als erster schwuler Politiker geoutet hat, für die Rechte der Schwulen eintrat und mit dem damaligen Bürgermeister 1978 erschossen wurde. An anderen Stellen hat die Autorin Recherchen zum Judentum und der Bevölkerungsgruppe der Roma, zur Aidsforschung und Magie betrieben und hat sich zu hochkomplexen medizinischen Sachverhalten beraten lassen. Zudem finden sich zahlreiche Hinweise zum Weltgeschehen der Handlungsjahrzehnte wie den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan, die Terroranschläge vom September 2001 oder den Irakkrieg.

Real sind die im Roman erwähnte Vereinigung lesbischer Motorradfahrerinnen Dykes on Bikes, die 1976 in San Francisco gegründet wurde sowie die Suramin-Studie, mit der ein Mittel gegen die HIV-Infektion gefunden werden sollte, da sich Aids – der Name existierte damals noch gar nicht – rasant unter den Homosexuellen verbreitete. Schließlich hat auch der in ganz Amerika gefeierte große Zauberkünstler Howard Thurston bis zum Jahr 1936 gelebt. Die Autorin, deren Schreibstil an Isabel Allende erinnert, hat in dem nachdenklich stimmenden Plot eine interessante Frage aufgegriffen: Ob allein ein willkürlich genanntes Todesdatum den weiteren Lebensweg in der Form beeinflussen kann, dass die Vorhersage tatsächlich eintrifft. Ein Placebo vermag, und auch darauf verweist sie, genau die Symptome in einem Menschen hervorzurufen oder auch zum Verschwinden bringen, die ihm prophezeit wurden. Könnte es sich bei einem prophezeiten Todestag nicht genau so verhalten? Quasi eine self-fulfilling prophecy? Der in den USA mehrfach ausgezeichneter Roman ist zu Recht in über dreißig Ländern erschienen und fesselt den Leser von der ersten bis zur letzten Seite!

Die Unsterblichen von Chloe Benjamin

Die Unsterblichen
Übersetzung von Norbert Möllemann und Charlotte Breuer
btb Verlag 2021
Taschenbuch
400 Seiten
ISBN 978-3-442-71985-3

Bildquelle: btb Verlag
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