Nachdem Lili Paal Anfang 1951 einen schweren Autounfall hatte, nutzte ihr Ehemann Albert die Zeit ihrer Genesung, das einst von ihrem Vater gegründete Kino am Jungfernstieg zu einem Musiklokal umzubauen. Beide wohnen bei ihrer Halbschwester Hilde und deren Ehemann Peter. Mittlerweile sind viereinhalb Jahre vergangen und Lili, die unter ihrem Mädchennamen Wartenberg eine gefragte Cutterin für Filme war, arbeitet nunmehr als weniger anspruchsvolle Cutterin bei der Neuen Wochenschau. Eines Tages nimmt ihre Nichte Gesa im Hotel Esplanade eine Buchung der Roolfs-Film entgegen: Thea von Middendorff, der größte Star der Ufa, will unter dem Regisseur und ihrem einstigen Geliebten Leon Caspari ihren ersten Nachkriegsfilm drehen. Ihr Ehemann, der Multimillionär Manfred von Middendorff, kam während der Dreharbeiten zu Leon Casparis letztem Ufa-Streifen zu Tode, ohne dass die Hintergründe geklärt werden konnten.
Zufällig trifft Lili auf einer Geburtstagsfeier ihres Chefs Walter Bachmann ihren früheren Geliebten John Fontaine wieder, der seinerzeit das verunglückte Auto steuerte. Sie fragt sich, warum er sich all die Jahre nicht bei ihr gemeldet hat und sich nie erkundigt hat, wie es ihr erging. Vergeblich versucht sie sich zu erinnern, worüber sie kurz vor dem Unfall gestritten haben. Lilis Gedanken werden abgelenkt, als ihre Halbschwester Hilda mit ihr das Trümmergrundstück aufsuchen möchte, auf dem ihr Elternhaus stand. Obwohl bereits das meiste geplündert wurde, findet Lili in einer Kassette eine Heiratsurkunde, die ihr Rätsel aufgibt. Als sie dort ein weiteres Mal nach Fundstücken sucht, hegt sie angesichts eines anwesenden Vermessungstechnikers einen schrecklichen Verdacht, der immer weitere Kreise zieht.
Der Roman „Das Kino am Jungfernstieg – Der Filmpalast“ ist bereits der 2. Band der Familiensaga von Micaela Jary, die wie kaum eine andere die Welt des Films der 1950er Jahre kennt, denn ihr Vater Michael Jary war, wie sie in einem Nachwort bekennt, „maßgeblich am Aufbau der Filmwirtschaft in der Hansestadt beteiligt“. Von daher ist es sehr wahrscheinlich, dass sie zumindest einige, wenn nicht sogar alle im Plot genannten berühmten Schauspieler persönlich kennengelernt hat.
Neben der Kritik an der benachteiligten Stellung der verheirateten Frauen zur damaligen Zeit hat die Autorin in ihrem flüssig geschriebenen Roman „Das Kino am Jungfernstieg – Der Filmpalast“ das Leben von Lili in den Vordergrund gestellt. Ihre Protagonistin hat nach dem Unfall bei ihrer Bewerbung darauf verzichtet, ihren Mädchenname Wartenberg ins Spiel zu bringen und will durch gute Arbeit überzeugen. Was ihr Privatleben betrifft, stellt sie mit der Zeit fest, dass sie von ihrer Familie betrogen wird, angefangen bei ihrer inzwischen verstorbenen Mutter Sophie. Doch das sind nicht die einzigen Sorgen, die Lili quälen: Irgendwie wird sie den Verdacht nicht los, dass der Autounfall mit dem Tod von Manfred von Middendorf zusammenhängen muss, nur sieht sie die Verbindung nicht. Zudem leidet sie, was John betrifft, unter Liebeskummer und Eifersucht. Bei jedem Aufeinandertreffen mit dem nunmehr als Korrespondent für die BBC arbeitenden Mann fehlen ihr entweder die Worte oder sie wundert sich über ihre ausgesprochenen, ein anderes Mal wird ihr übel oder sie möchte am liebsten im Boden versinken. Micaela Jary versteht es bestens, den Liebenden immer neue Hindernisse in den Weg zu legen und Missverständnisse zu streuen, die so manche Leserin dahinschmelzen lassen.
Das Kino am Jungfernstieg – Der Filmpalast von Micaela Jary
Goldmann Verlag 2021
Klappenbroschur
400 Seiten
ISBN 978-3-442-48847-6