Landeier von Tom Liehr

LandeierSebastian Kunze schreibt Kolumnen und Restaurant-Kritiken für das Berliner Stadtmagazin. Mit seiner Ehefrau Melanie hat er eine Tochter, die vierjährige Lara, die jedoch gar nicht in sein Leben passt und die er bisher auch kaum wahrgenommen hat. Obwohl er seine Frau immer noch anziehend findet, ist er Seitensprüngen nicht abgeneigt, wobei er den potenziellen Frauen Noten auf einer Skala von eins bis zehn zuordnet. Als er während einer Cluberöffnung von der Einstellung des Stadtmagazins erfährt, wird er unerwartet arbeitslos. Doch ist das nicht die einzige Veränderung in seinem Leben: Noch weiß er nicht, dass Melanie bereits ein Haus im Spreewald gekauft hat, in dem sie eine Praxis für Psychotherapie einrichten will.

Notgedrungen fährt Sebastian mit seinem rasanten BMW Z4 in den Spreewald, um sich dort zwecks Hausbesichtigung mit seiner Frau zu treffen. Je mehr er sich dem eineinhalb Autostunden von Berlin entfernten Ziel nähert, kommen ihm auf der Straße nur noch Landeier in ihren „Nuckelpinnen“ entgegen. Bei der zu treffenden Entscheidung, ob er einem Umzug ins „Gurken-Nirwana“ zustimmen soll, kann ihm auch sein bester Freund Thorben nicht helfen. Aber die schlimmste Überraschung trifft ihn erst, als ihn Melanie mit einer erneuten Schwangerschaft konfrontiert, da er sich ohne ihr Wissen vor drei Monaten einer Sterilisation unterzogen hat.

Wer vom Klappentext oder Cover inspiriert davon ausgeht, dass es sich bei dem Roman „Landeier“ von Tom Liehr um leichte Kost handelt, wird schnell eines besseren belehrt. Denn der pedantische Protagonist Sebastian, der in jeder Hinsicht ein seltsam anmutender Artgenosse ist, bedient sich mit Vorliebe einer gewählten Ausdrucksweise und Wörtern lateinischen Ursprungs wie kontemplativ oder Konnotation. Er weiß, dass Playmobil-Figuren aus Acrylnitril-Butadien-Styrol-Copolymere hergestellt werden und bemächtigt sich genialer Umschreibungen, wenn beispielsweise von einer bestimmten Fähigkeit innerhalb des umfangreichen Portfolios der Vorzüge eines Menschen die Rede ist oder auch nur, wenn er statt eines Fisches vom Kiemenatmer spricht. Der Autor lässt seinen Protagonisten in der Ich-Form erzählen, dessen Ausführungen nur durch kurze Tagebucheintragungen von Melanie unterbrochen werden.

Tom Liehr lässt am Rande Fakten wie die immer wieder hinausgezögerte Eröffnung des Berliner Flughafens in den Plot einfließen und erinnert einzig und allein nur mit der Namensnennung von Josef Mengele an den sadistischen Arzt während der NS-Zeit. Alltägliche Situationen hat der Autor aufmerksam studiert und einer tiefgründigen Beleuchtung unterzogen, womit er vordergründig Leser anspricht, die einen gewissen Anspruch an ein Buch haben. Tom Liehr zeigt eindrucksvoll auf, wie Großstädte die Verhaltensweisen von Menschen verändern, was schon fast einer Charakterstudie gleichkommt. Wer auf die vielen feinen Nuancen achtet, wird den intelligenten und zunehmend amüsanter werdenden Roman „Landeier“ mit Freude lesen und auf die weitere Entwicklung des Protagonisten gespannt sein.

Landeier von Tom Liehr

Landeier
Rowohlt Verlag 2017
Taschenbuch
336 Seiten
ISBN 978-3-499-29109-8

Bildquelle: Rowohlt Verlag
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