Im Dezember 2019 meldet China eine unbekannte Lungenkrankheit an die WHO, deren Auslöser ein neues Coronavirus ist. Am 27. Januar 2020 erreicht es bereits Deutschland. Wenige Wochen später stirbt der erste Deutsche und Heinsberg wird hierzulande der erste Hotspot. Was niemand für möglich gehalten hat, wird am 22. März 2020 mit einem Lockdown Wirklichkeit. Schulen und Kitas werden ebenso wie Restaurants oder Kinos geschlossen. So schwer es jedem fiel, sich mit der Realität abzufinden, so kann das auch im Roman Kaltfront* die Landärztin Vera in Wolfach nicht. In dem Dorf im Schwarzwald bezieht sie eine Altbauwohnung unweit ihrer Praxisräume. Drei Monate gönnt sie sich noch die nötige Ruhe, bevor sie erste Patienten behandelt. Mit Rahel kann sie eine Assistentin aus dem Dorf gewinnen.
Als das Leben einer jungen Mutter am seidenen Faden hängt, hat Vera kaum Zeit, sich Gedanken über das im fernen Erdteil ausgebrochene Virus zu machen. Doch das Virus macht auch vor der Landesgrenze nicht Halt. Vera, der erste Fehler unterlaufen, beruhigt ihre verängstigten Patienten und hofft vergeblich, dass man dem Schlimmsten entgeht, denn schon fahren Wagenkolonnen mit Toten im Laderaum, was Vera an den Roman Die Pest* von Albert Camus erinnert.
Vera besucht eine Patientin im Spital, die von Sanitätern in Schutzanzügen weggetragen wurde. Erste Patienten bleiben aus Angst vor einer Ansteckung weg. Als sie selbst erkrankt, führt ein Kollege ihre Praxis weiter. Sie selbst liest den fast achtzig Jahre alten Roman Die Pest* von Camus noch einmal und ist über die Parallelen zur Gegenwart erstaunt. Nachdem sie sich wieder erholt hat, fährt Luca mit Vera zur Erholung zu einer Alphütte, wo sie zu neuen Kräften kommt. Nach ihrer Rückkehr steht die Frage einer Impfung zur Debatte und trotz leiser Zweifel wegen der „raschen Herstellung“ schließt sie sich den Impfaktionen an.
Von Impfgegnern wird Vera als „Impfhexe“ verschrien. Erst als ihr Mitkämpfer Sven von einzelnen schweren Impfkomplikationen berichtet, fragt sie sich, ob sie zu unkritisch war. Von Zweifeln zerfressen setzen ihr ein Angriff auf die Praxis und Hassnachrichten zu. Von Seiten der Polizei wird ihr kein Schutz gewährt, allerdings erkennt Luca den Ernst der Lage und trifft Sicherheitsvorkehrungen.
Der Roman Kaltfront*, der zwar auf einer wahren Begebenheit beruht, deren Wahrheitsgehalt sich aber lediglich aus der Geschichte herauslesen lässt, wird von Peter Weibel, der selbst als Allgemeinpraktiker tätig ist, in zwei Parallelen erzählt: Zum einen schreibt er vom Leben der Landärztin Vera, zum anderen wird der Handlungsfluss von kursiv dargestellten Kapiteln unterbrochen, bei denen es sich um Auszüge aus Dokumenten oder Protokollen wie beispielsweise der Ärztekammer oder eines Leiters von Pflegehäusern handelt. Deutlich geht aus dem Plot hervor, dass die Behörden die Verantwortung nur weitergereicht haben, die Polizei keine Notwendigkeit zum Handeln sah und die Ärztekammer geschwiegen hat.
Die Protagonistin wird vom Autor als außerordentlich verantwortungsbewusst beschrieben. Im Anschluss an die Sprechstunde macht sie noch Hausbesuche und nachdem sie als Impfhexe beschimpft wird, lässt sie das nicht einfach auf sich sitzen und schreibt verteidigend an die Lokalzeitung, dass es keine Alternativen gibt und man die Schreckensbilder von den Intensivstationen nicht vergessen darf. Nachdenklich machen Aussagen im Plot, nach denen ein Epidemiologe im Zusammenhang mit einer Impfung fordert, „keine Diskussionen über Risiken“ zuzulassen. Ein älterer Mann äußert auf derselben Veranstaltung, dass erst die Zukunft zeigen wird, ob die Impfung der richtige Weg war. Und noch mehr Fragen wirft auf, ob die alten Menschen, obwohl sie doch vor den jungen sterben, gerade deshalb für den Fall bei der Impfaktion an erster Stelle standen, falls bei den Impfungen etwas schieflaufen würde.
So fragwürdig es ist, ob Luca ein Bruder oder Freund von Vera ist, so warten auch weitere von Peter Weibel gemachte Aussagen in seinem Roman Kaltfront* auf eine Antwort, was sich insbesondere auf das Ende bezieht. Offen lässt der Autor, ob seine Protagonistin „nur“ Wahnvorstellungen verfallen ist, oder den Tod gefunden hat. In eindringlicher und verstörender Sprache, klar präzisiertem und dennoch subtilem Schreibstil widmet er sich einem ernsten und schwierigen Thema, der Pest des 21. Jahrhunderts, das die Menschheit bis heute im Atem hält und kontrovers diskutiert wird. Ein Roman, der lange nachwirkt.
Kaltfront von Peter Weibel
edition bücherlese 2024
Hardcover mit Schutzumschlag
96 Seiten
ISBN 978-3-906907-99-4