Kurz nach dem Abitur hatte Julia Feldmann die Journalistenschule besucht und träumte davon, investigative Reportagen zu schreiben. Doch seitdem hält sie sich mit dem Verfassen von Pressemeldungen sowie Texten für Broschüren im Wellnessbereich über Wasser und arbeitet als freie Medizin-Journalistin für das Magazin „Gesundheit heute“. Von dessen Chefredakteur Chris Hensel, mit dem Julia gemeinsam die Journalistenschule besucht hat, bekommt sie gelegentlich Aufträge, Berichte über Selbsterfahrungen oder Reportagen zu schreiben. Nach einer Pressekonferenz über ein Präparat zur Gewichtsreduktion lehnt sie es allerdings ab, das Pulver in einem Selbstversuch zu testen oder auch nur darüber zu schreiben, da sie das angebliche Wundermittel für gesundheitlich bedenklich hält.
Obwohl Julia der Me-Too-Debatte eigentlich überdrüssig ist, nimmt sie den Vorschlag von Chris an, einem Verdacht über Machtmissbrauch und sexuelle Übergriffe an einem bekannten deutschen Forschungsinstitut nachzugehen. Außerdem hofft sie, bei ihren Recherchen vielleicht etwas über ihren Bruder Robert zu erfahren, der vor zwölf Jahren bei einem Wanderurlaub in Norwegen spurlos verschwunden ist und damals in dem wissenschaftlichen Institut gearbeitet hat. Bei ihren weiteren Nachforschungen stößt Julia auf eine Mauer des Schweigens, doch als sich die erste Betroffene bei ihr meldet, ist ihr journalistischer Instinkt geweckt. Sie erhält einen Hinweis auf den attraktiven Dr. Jens Höger, der von mehreren Frauen beschuldigt wird sie sexuell belästigt zu haben, und stößt auf eine Verbindung zu ihrem Bruder Robert.
Mit ihrem Roman Die Spur des Schweigens* hat Amelie Fried ein brisantes Thema aufgegriffen, denn es geht um sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz durch Männer in leitender Position, um Machtmissbrauch und das Schweigen der Betroffenen. Am Beispiel eines renommierten Forschungsinstituts schildert die Autorin, wie vornehmlich ausländische angehende Doktorandinnen, die an ihren Forschungen arbeiten, abhängig vom Wohlwollen ihrer Tutoren sind. Frauen, die sich über Belästigungen beschweren, werden gemobbt und die Vorfälle vom Institutsleiter vertuscht, der selbst in Verdacht gerät, Forschungsergebnisse der Doktorandinnen für eigene Veröffentlichungen genutzt zu haben.
Die Handlung wird auf zwei Ebenen erzählt. Da sind zunächst einmal die Kapitel mit der sympathischen Protagonistin Julia, die mit allen ihren Ecken und Kanten geschildert wird. Sie kann das Verschwinden ihres Bruders Robert, zu dem sie in der Kindheit eine besonders enge Beziehung hatte, nicht verkraften und ist einem übermäßigen Genuss von Alkohol nicht abgeneigt. Als Journalistin geht sie zielstrebig und einfühlsam vor, will Missstände aufdecken und die Wahrheit ans Licht bringen. In weiteren, eingeschobenen Kapiteln erfährt der Leser durch Rückblicke ins Jahr 2007 mehr über den verschwundenen Bruder Robert und die tragische Familiengeschichte der Protagonistin. Die Demenzerkrankung ihrer Mutter Gitta, Probleme bei der Wohnungssuche und Julias Freundin Kathrin, die sich als alleinerziehende Mutter durchschlagen muss, sind weitere gesellschaftliche Themen, die Amelie Fried aufgreift. Doch regt der Roman Die Spur des Schweigens* nicht nur zum Nachdenken an, sondern er ist auch spannend wie ein Krimi und bietet dem Leser hervorragende Unterhaltung.
Die Spur des Schweigens von Amelie Fried
Heyne Verlag 2020
Hardcover mit Schutzumschlag
496 Seiten
ISBN 978-3-453-27048-0