Am 6. November 1946 kommt Karl-Heinz Sadrozinski zur Welt. Bevor er vom Ehepaar Bartsch aufgenommen wird und den Namen Jürgen führt, kümmern sich Krankenschwestern in einer Klinik um ihn. Eine der Schwestern ist auch weiterhin als Kindermädchen für ihn zuständig, darf den Kleinen lediglich versorgen, ihm aber keinerlei Zuwendung zuteil werden lassen. Die Adoptiveltern, die häufig miteinander streiten, überlassen das Kind häufig sich selbst, das in einem dunklen Raum hinter vergitterten Fenstern wohnt und nur selten nach draußen kommt. Das Kindermädchen sieht häufig blaue Flecken an dem Jungen, der ihr Mitleid erregt.
In der Schule gilt Jürgen Bartsch als Außenseiter, und wie ein wenige Jahre älterer Schüler erklärt, ist er ein „verzärteltes Mamakind“, das sich für etwas Besseres hält, ängstlich ist und Geld dafür bezahlt, nicht verhauen zu werden. Für drei Jahre kommt Jürgen in das Internat Marienhausen, wo er sich gegen die Übergriffe pädophil veranlagter Pater nicht wehren kann. Bereits als Fünfzehnjähriger spricht Jürgen Bartsch, der eine Metzgerlehre beginnt, einen Achtjährigen auf der Kirmes an, missbraucht und erschlägt ihn. Einem Geistlichen vertraut er seinen größten Wunsch an, „ein Kind bei lebendigem Leibe aufzuschlitzen, um ein pochendes Herz in Händen halten zu können!“
„Der Kirmesmörder – Jürgen Bartsch“ erschleicht sich das Vertrauen weiterer Jungen. Unter einem Vorwand lockt er sie in einen ehemaligen Luftschutzbunker, wo er sie auf grausamste Weise quält und drei weitere ermordet. Durch Zufall filmt ihn ein Amateur, wie er mit einem Jungen Autoscooter fährt, und die WAZ veröffentlicht das Foto. Nach seiner Verhaftung wird der Geständige am 6. April 1971 vom Landgericht Wuppertal zu einer Jugendstrafe und Unterbringung in die Klinik Eickelborn verurteilt, in der während des Dritten Reiches Zwangssterilisationen durchgeführt wurden. Um frei zu kommen, stimmt er schließlich einer Kastration zu, nachdem er 1974 zwar eine Schwesternhelferin heiraten, die Ehe aber nicht vollziehen durfte. Ohne die Anwesenheit eines Anästhesisten wird bei der Narkose das Anästhetikum verwechselt, woraufhin Jürgen Bartsch am 28. April 1976 im Landeskrankenhaus an Herzversagen verstirbt.
Der biografische Kriminalroman „Der Kirmesmörder – Jürgen Bartsch“ von Regina Schleheck ist neben der Aufarbeitung seines Lebensweges, bei dem verschiedene Personen im Wechsel zu Wort kommen, auch ein Zeitzeugnis. So schreibt die Autorin vom Frauenüberschuss und der am Boden liegenden Wirtschaft nach dem Krieg. Sie erinnert an den unter dem Codenamen Operation Gomorrha durchgeführten Feuersturm im Juli 1943 auf Hamburg, an die Ängste der Kinder in den Bunkern, an die von Bergleuten gefürchteten Schlagwetterexplosionen und die Rettungsaktion bei dem Grubenunglück von Lengede, das einem Wunder gleichkam. Ihre Recherchen beziehen den Contergan-Skandal, wie auch die Studentenproteste während des Schahbesuchs in Deutschland mit ein, die im Tod von Benno Ohnesorg mündeten. Sie weiß aber auch von „Straßenfegern“ zu berichten, die die Menschen an den Fernseher gefesselt haben, von Hollywoodstars, toupierten Haaren und Spielen auf dem Schulhof.
Wenn Regina Schleheck die zu Wort Kommenden in der Ich-Form erzählen lässt, dann in einer für das Ruhrgebiet typischen Ausdrucksweise. Dem ermordeten Klaus Jung gibt sie in ihrem biografischen Kriminalroman den Namen Karl Jung, Peter Fuchs nennt sie Peter Wolf, aus Ulrich Kahlweiß wird Uwe Kahlweiß und Manfred Graßmann, das letzte Opfer von Jürgen Bartsch, heißt bei ihr Martin Graßmann. Um Neutralität bemüht, weckt sie bei der Aufarbeitung der traurigen Kindheit des zur Bestie mutierten Jürgen Bartsch beim Leser Verständnis, wohingegen sie Mitleid mit den Opfern erzeugt, wenn sie aus der Sicht der Gepeinigten von ihren Qualen schreibt. Ob schon ab 16 Jahren eine Leseempfehlung befürwortet werden kann, ist fraglich, denn zumindest zartbesaiteten Gemütern kann die Lektüre nicht zugemutet werden.
Ganz besonders hat die Autorin aber die Prüderie der Nachkriegsgeneration anhand eines Zwillingspaares aufgearbeitet und die Doppelmoral, insbesondere der katholischen Kirche, angeprangert. Man mag es kaum glauben, aber Homosexualität wurde erst 1994 mit der Streichung des § 175 nicht mehr unter Strafe gestellt und die Berührung der eigenen Geschlechtsteile galt als schmutzig und verwerflich. „Der Kirmesmörder – Jürgen Bartsch“ ist sicherlich kein Buch, das die Stimmung hebt, aber es sensibilisiert für die Notwendigkeit, kleinen Kindern Liebe und Aufmerksamkeit zu schenken, damit sich ihre Unzufriedenheit im späteren Leben nicht gegen Schwächere richtet.
Der Kirmesmörder – Jürgen Bartsch von Regina Schleheck
Gmeiner Verlag 2016
Taschenbuch
242 Seiten
ISBN 978-3-8392-1939-3