Der Junge von Alex Dahl

Der JungeJohan und Cecilia Wilborg leben in dem kleinen Ort Sandefjord in Norwegen. Wie allen Bewohnern geht es auch ihnen finanziell sehr gut: Das großzügige Haus verfügt über eine Dreifachgarage, ein Schwimmbad und bietet einen Panoramablick auf das Meer. Als Cecilia mit ihrer Tochter Nicoline im Schwimmbad auf deren Schwester Hermine wartet, fällt ihr bereits ein dunkelbrauner Junge auf. Nach Beendigung des Schwimmkurses will sich Cecilia gerade mit den Kindern auf den Heimweg machen, als sie von der Kassiererin zurückgerufen wird. „Der Junge“ würde erst ein paar Wochen mit zum Schwimmkurs kommen und offensichtlich hole ihn heute niemand ab. Daher ihre Bitte, dass Cecilia so freundlich sein und den achtjährigen Tobias nach Hause bringen soll. Seine Adresse sei bekannt.

Cecilia ist von diesem Vorschlag wenig begeistert, stimmt jedoch zu. Allerdings wohnt niemand an der ihr genannten Adresse, obwohl Tobias auf Nachfrage bestätigt, hier gewohnt zu haben. Da er weint und Cecilia flehentlich bittet, nur diese eine Nacht bei ihr und den beiden Töchtern bleiben zu dürfen, gibt sie trotz eines mulmigen Gefühls nach. Am nächsten Morgen setzt sie den Jungen an der Schule ab, die er nach eigener Aussage besucht. Doch es dauert nicht lange, bis ein Anruf bei Familie Wilborg eingeht und sie gebeten werden, unverzüglich zur Schule zu kommen. Polizeikommissar Thor Ellefsen und Laila Engebretsen vom Sozialamt kommen überein, dass die Familie bis zur Klärung den schwer traumatisierten Jungen zu sich nehmen sollen. Nach neun Tagen wird eine Leiche aus dem Wasser gezogen. Die Tote, Annika Lucasson, bereits durch ein Suchtprogramm aktenkundig geworden, könnte die Mutter von Tobias gewesen sein.

Alex Dahl lässt in ihrem Psychothriller im Wechsel jeweils in der Ich-Form Cecilia und Tobias erzählen. Schon nach wenigen Seiten erinnert sich Cecilia an Schreie und Schmerzen. Es quälen sie böse, alte Erinnerungen, und für ihr perfektes Leben, das sie heute mit ihrem Mann führt, hätte sie kämpfen müssen. Sie verstrickt sich in Lügen und will lieber für eine Kokainsüchtige gehalten werden als für das, was sie wirklich ist. Mehr verrät die Autorin zunächst über die Hintergründe nicht, außer, dass Cecilia im Gegensatz zu ihren Beteuerungen eine Frau namens Anni gekannt hat.

Anni ist dem Leser bereits aus den Erzählungen von Tobias bekannt. Er erinnert sich an Anni und Krysz, bei denen er leben musste. Anni wurde häufig von Krysz geschlagen, vor dem er selbst auch Angst hatte, weil dieser ihm oftmals gedroht hat. Viel lieber erinnert er sich an die Zeit davor, als er bei Moffa leben durfte und er den Hund Baby hatte. Die Szene im Schwimmbad, bei der Cecilia von der Kassiererin zurückgerufen wird, wiederholt sich aus der Perspektive von Tobias, wobei der Leser erfährt, dass „Der Junge“ den Namen Cecilia nicht zum ersten Mal hört und ihn kennt.

Zwischenzeitlich gibt es noch eine dritte Ich-Erzählerin in der Person der Annika Lucasson, identisch mit Anni, die ein Tagebuch über ihr schicksalhaftes Leben schreibt, von der glücklichen Kindheit, die ein jähes Ende fand, bis hin zum Kennenlernen des Polen Krysztof Mazur, der sie ausnutzt und dem sie hoffnungslos verfällt. Alex Dahl versteht es, durch einen steten perspektivischen Wechsel das Interesse des Lesers an die weitere Entwicklung der Handlung zu fesseln. Nach jedem Kapitel ist er zuversichtlich, nur noch diese eine Antwort auf eine Frage erhalten zu wollen, doch dann endet auch dieses Kapitel mit einer Begebenheit, die zum Weiterlesen zwingt.

Der Psychothriller von Alex Dahl verzichtet auf actiongeladene Szenen und alles, für das besonders starke Nerven erforderlich sind, was allerdings kein Manko für die zunehmende Spannung ist. Dafür überzeugt der Plot mit einer faszinierenden Erzählkunst einer begnadeten Autorin und mit vielen Überraschungen, die noch auf den letzten Seiten für eine Wendung sorgen. Eine unbedingte Leseempfehlung!

Der Junge von Alex Dahl

Der Junge
Übersetzung von Eva Kemper
Goldmann Verlag 2019
Klappenbroschur
464 Seiten
ISBN 978-3-442-48812-4

Bildquelle: Goldmann Verlag
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