Bis ans Meer von Peggy Patzschke

Bis ans MeerWährend ihr Ehemann Karl Puchalla an der Front ist, hämmert plötzlich der Blockwart eines Abends im Januar 1945 im schlesischen Brieg an Friedas Haustür: Auf Befehl des Gauleiters haben sich am nächsten Morgen um fünf Uhr alle mit maximal zwei Gepäckstücken zur Evakuierung bereit zu halten. In der gebotenen Eile vergräbt Frieda Wertsachen im Garten und lockt ihre kleine Tochter Erika mit dem Versprechen, nach Wünschelburg zu Onkel Walter und Tante Charlotte zu fahren. Eine erste Enttäuschung macht sich breit, als der letzte Bus, der sie zum Fliegerhorst bringen sollte, ohne sie abgefahren ist. In Begleitung hunderter Vertriebener marschieren Frieda, Erika und Sohn Horst bei minus 30° über die Dörfer, auf der Flucht vor den Kanoneneinschlägen der Roten Armee. Ihnen bleiben die Anblicke von erschöpft Zusammengebrochenen, die nicht mehr aufstehen, von Toten, die bis auf die Unterwäsche entkleidet wurden und fürchterliche Schreie von Verletzten oder Niedergetrampelten nicht erspart.

Nach einer Zugfahrt kommen die drei endlich bei Friedas Bruder an und trotz einer in den Wirren abhanden gekommenen Tasche sind sie nur noch froh, am Leben zu sein. Doch im Juli 1945 ist es Walters Ehefrau Leid, zumal der Krieg ein Ende hat, und Frieda entschließt sich zur Rückkehr nach Brieg, lässt aber Wertsachen und Papiere beim Bruder. Noch ahnt sie nicht, dass sie diesen Schritt eines Tages bereuen wir. Doch da Karl sich immer noch nicht, wie verabredet, in Wünschelburg eingefunden hat, bleibt ihr nichts anderes übrig, wenn sie ihn wiedersehen will. Bei sengender Hitze quält sich die Mutter mit den beiden Kindern 180 km zu Fuß nach Brieg, wo sie viele Häuser in Schutt und Asche vorfinden. Das Gebiet steht unter russischer und polnischer Herrschaft, soll jedoch komplett den Polen zufallen, die alle Deutschen abgrundtief hassen. Frieda spürt die Konsequenzen am eigenen Leib, bevor es wieder Zwangsumsiedlung für alle Deutschen heißt. Eine weitere schreckliche Odyssee steht ihnen bevor…

Die Fernsehmoderatorin Peggy Patzschke hat ihren Roman Bis ans Meer*, der auf wahren Begebenheiten ihrer Familiengeschichte beruht, in zwei Zeitebenen geschrieben. Neben den menschenunwürdigen Geschehnissen ihrer Großmutter auf der Flucht im Erzählstil meldet sich immer wieder deren Enkelin in der Ich-Version zu Wort, die unverarbeitete Beziehungsprobleme hat. Sie liebt Bruno und weiß, dass er ihre Liebe erwidert, schickt ihn trotzdem fort und bereut es augenblicklich. Mit vierunddreißig ist sie auch noch schwanger! Will sie das Kind überhaupt? Von ihrer Mutter nimmt sie einen Karton mit Tagebuchaufzeichnungen ihrer Großmutter sowie Briefe mit, die vielleicht enthüllen, ob an dem Gerücht eines schlimmen Vorfalls vor langer Zeit etwas dran ist.

Die an keiner Stelle des Plots namentlich erwähnte Enkelin ist zwar wie die Autorin auch als Moderatorin tätig, doch ist deren personelle Ausschmückung allein dramaturgischen Zwecken geschuldet. Was jedoch die minutiös festgehaltenen Stationen auf der Flucht anbelangt, finden sich dazu auf einem Facebook-Eintrag von Peggy Patzschke vom 5. Januar 2025 Briefe sowie ein Foto samt einem Hinweis auf Youtube. In nicht chronologischer Reihenfolge gibt es Rückblicke aus glücklichen Tagen von Frieda, wie sie sich in Karl verliebt und beide heiraten. Wie alle jungen Menschen hatten auch sie Träume und wollten unbedingt eines Tages Bis ans Meer*. Ebenso gab es in ihrem Leben kummervolle Jahre, in denen Karl lange Zeit arbeitslos war und sie keine Wohnung bekamen, weil er nicht in die Partei eintreten wollte.

Eindrucksvoll schreibt die Autorin vom unbedingten Überlebenswillen, der jede Menschlichkeit vergessen lässt. Sie erinnert an den vom Roten Kreuz organisierten Suchdienst und die Phosphorbombardierung der Amerikaner auf Dresden vom 13. auf den 14. Februar 1945, deren Opfer nur ungenau mit Zehntausenden beziffert wird. Gespickt mit einer Menge Lebensweisheiten spürt Peggy Patzschke den Auswirkungen von Traumata auf nachfolgende Generationen nach, mit deren Vererbung sich die Epigenetik beschäftigt. Manch einen Leser wird dieses wichtige Zeitzeugnis an eigene Vorfahren erinnern, die vielleicht wenig über ihre schlimmen Erlebnisse zu erzählen vermochten und sehen ihre Mütter oder Großmütter nach der Lektüre mit anderen Augen. Ein großartiger Roman ohne Ecken und Kanten, spannend und bis zum Ende offen!

Bis ans Meer von Peggy Patzschke

Bis ans Meer
Verlag Rütten & Loening 2025
Hardcover mit Schutzumschlag
445 Seiten
ISBN 978-3-352-01009-5

Bildquelle: Verlag Rütten & Loening


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