Aufbruch von Ulla Hahn

AufbruchEs ist die Amtszeit von John F. Kennedy und vier „Pilzköpfe“ bringen die Mädchen um den Verstand. Das Buch „Aufbruch“ von Ulla Hahn versetzt uns mit Hildegard Palm, kurz Hilla genannt, in diese Zeit. Hilla wohnt mit ihrer Familie in Dondorf, einem kleinen Örtchen am Rhein und besucht das Aufbaugymnasium. Was für eine aus einer Proletenfamilie schon ungewöhnlich ist. Fast täglich trifft sie sich mit dem aus besserem Hause stammenden Godehard, der ihr Geschenke macht. Darunter sogar einen Ring, mit dem er ernste Absichten bekundet. Dabei denkt Hilla noch gar nicht an eine feste Bindung, sondern hat nur ihr Ziel Abitur und Studium vor Augen. So „kniefällig“ wie ihre Mutter will sie nicht werden. Als sie jedoch erfährt, dass sie nur als Ersatz für eine Andere herhalten muss, ist sie froh, sich ihr „Kapital“, wie die Mutter immer gemahnt hat, bewahrt zu haben. Und ihr Zuhause ein Loch genannt zu haben, nein, das hätte Godehard nicht sagen dürfen.

Hilla nimmt einen Ferienjob auf dem Friedhof an, arbeitet dort doch Peter, in den sie verliebt ist. Von der täglichen Arbeit im Freien braun gebrannt, spart sie sich ihr Geld und gibt bei ihren Freundinnen mit einer erdachten und erträumten Reise an. Doch ihre Hoffnungen auf eine Verbindung mit Peter platzen schnell.

Zurück in der Schule übersteigen die begangenen Gräueltaten an den Häftlingen in Auschwitz die Vorstellungskraft aller Schüler. Ihre Hausaufgabe ist es, alles zu dokumentieren, was sie bei Verwandten und Bekannten darüber zusammentragen können. Hilla bringen diese Gespräche ihrer Mutter und Oma so nah, wie schon lange nicht mehr. Ihren alten Lehrer Mohren befragt sie ebenfalls. Warum so viele geschwiegen haben, versucht sie zu begreifen. Der erklärt ihr, dass es eine Mischung zwischen Mitmachen und Verstand war. Denn da, wo alle mitgemacht haben, ist es keiner gewesen. Das Gewissen hat man beim Führer abgegeben.

Nach einem Fest bei der katholischen Landjugend verpasst Hilla die letzte Bahn und fährt per Anhalter. Doch da passiert etwas, das ihr weiteres Leben entscheidend beeinflusst. Sie hat Sehnsucht nach ihren Kinderaugen, die sie nie wieder haben wird. Sie verliert jegliches Interesse am Lesen, was ihr sonst so wichtig war. In der Abiturprüfung sieht Hilla sich wieder den durchgemachten Schrecken gegenüber und versagt in Mathe. Damit ist die Unterstützung aus einer Studienstiftung dahin. Unverhofft kommt ihr ausgerechnet ihr Vater zur Hilfe, den sie nur als jähzornigen Menschen kennen gelernt und den auch ihr Bruder niemals lachen gehört hat. Doch nicht nur in ihrem Vater entdeckt Hilla sein anderes Ich, sondern auch in einem Gespräch mit der Großmutter sieht sie diese jetzt in einem anderen Licht. Sie bricht zu neuen Ufern auf und bereitet sich auf ein Studium in Köln vor, womit sie erstmals in ihrem Leben für sich selbst verantwortlich sein wird.

Ulla Hahn hat sich in „Aufbruch“ sehr kritisch mit vielen Themen beschäftigt und dabei hat sie die besondere Gabe, dem Leser viele Details seitenweise nahe zu bringen, ohne dabei langatmig zu werden. Sie versteht es auf eine ihr eigene Art, mit Sprache regelrecht zu jonglieren. Mit böser Zunge macht sie sich lustig über die in Mode gekommenen SB-Märkte, bei denen man nicht mehr anschreiben lassen kann. Sie nimmt die Werbung aufs Korn und vergleicht beten mit einem Lottogewinn: „Wer nicht spielt, kann nicht gewinnen, wer nicht betet, kann nicht erhört werden“. Und was die Kirche Auferstehung nennt, ist bei ihr eine Sondervergünstigung. Die Autorin prangert die soziale Ungerechtigkeit an und geht auf die Probleme der Gastarbeiter und Fließbandarbeit ein. Der Roman besticht durch eine Vielzahl bitterer, ironischer Spitzfindigkeiten und gibt an vielen Stellen Nachhilfe in Latein und klassischer Literatur. Hilla muss an einer Stelle dem Pfarrer versprechen, dass sie immer zwischen den Zeilen lesen wird. Das sollte der Leser bei dem vorliegenden Werk auch unbedingt beachten. Und wer wissen will, was es mit den vielen Steinen, die in Hillas Leben eine Rolle spielen, auf sich hat, sollte sich „Aufbruch“ von Ulla Hahn zu Gemüte führen. Es ist ein Genuss, in diese Welt abzutauchen!

Aufbruch von Ulla Hahn

Aufbruch
dtv 2011
Taschenbuch
592 Seiten
ISBN 978-3-423-13993-9

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Bildquelle: dtv
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