Nachbarn von Madeleine Prahs

NachbarnDas erste, was Anne nach der Flucht in den Westen in die Hand bekommt, ist eine Dose Cola, und deshalb beschließt sie nicht traurig zu sein, weil die Mutter mit ihr und ihrem kleinen Bruder in der Bundesrepublik bleiben will. Im Aufnahmelager lernt sie die Comics mit Donald Duck kennen, um die sie die anderen Kinder im Osten beneidet hätten. Nachdem die Mutter ein Telefon angeschafft hat, hofft Anne vergeblich, dass sich ihr Vater, dem sie bereits vier Briefe geschrieben hat, melden würde. Als sie eines Tages glaubt ihn auf der Straße zu sehen, wird sie von einem Auto angefahren. In der Schule ist sie eine Außenseiterin, die für einige Zeit in dem türkischen Jungen Mehdi einen Freund findet, bis der mit seiner Familie wieder zurück nach Istanbul geht.

Inzwischen ist Anne erwachsen und muss als alleinerziehende Mutter den Lebensunterhalt für sich und ihre kleine Tochter Marie als Altenpflegerin verdienen. Damit das Geld zum Leben reicht, hat sie zusätzlich einige Putzstellen angenommen. Nachdem Marie den Hort schwänzt, von dem sie sich selbst abgemeldet hat, braucht Anne dringend eine Nachmittagsbetreuung für ihre Tochter. Dabei kommt ihr notgedrungen der starrköpfige Rentner Karl Fritzsche in den Sinn, den sie zwar als Pflegerin betreut, der aber quasi die Pflegestufe null hat. Doch Karl Fritzsche, der auf seinen Tod wartet, will von Annes Vorhaben zunächst nichts wissen und so treffen die beiden eine Vereinbarung.

Die Studienfreunde Hans und Matthias sind beide in die Bibliothekarin Hanna verliebt. Doch Matthias, der eher zurückhaltend und schüchtern ist, rechnet sich gegen den Charme von Hans, den er insgeheim bewundert, keine Chancen bei Hanna aus. Nachdem Hans mit Hanna verheiratet ist, nutzt er eine Studienreise nach Rom, die ihm sein Doktorvater ermöglicht hat, um sich in die Bundesrepublik abzusetzen. Hanna kann es nicht fassen, dass er sie ohne ein Wort einfach verlassen hat. Sie darf bis auf weiteres nicht mehr in der Bibliothek arbeiten, während Hans im Westen eine Anstellung als Kunsthistoriker findet. Als Hanna die Scheidung eingereicht hat und von Hans geschieden wird, lebt sie in ihrer Wohnung zusammen mit Matthias, der inzwischen als Architekt in der Abteilung Wohnungsbau arbeitet. Nach dem Mauerfall setzen sich immer mehr Mitarbeiter aus der Brigade in den Westen ab und Matthias befürchtet, dass sich auch Hanna früher oder später auf den Weg zu Hans machen wird, obwohl sie nie mehr von ihm gesprochen hat.

In ihrem Roman „Nachbarn“ erzählt Madeleine Prahs in kurzen Episoden die Schicksale von sechs Menschen, deren Lebenswege durch die Zeit vor und nach dem Mauerfall im Jahr 1989 im Osten der Republik geprägt wurden. Sie begleitet ihre Protagonisten durch ihre Hoffnungen, Träume und Enttäuschungen in der Nachwendezeit bis zum Jahr 2006, in dem der Roman endet. Der Titel des Romans erweckt zunächst den Eindruck, bei den Personen könnte es sich um die Bewohner eines Hauses, um Nachbarn handeln. Doch wird im Verlauf der Handlung klar, dass das nachbarschaftliche Verhältnis zwischen Ost und West gemeint ist, von dem in der Bundesrepublik geredet wurde, während die Menschen im Osten von einer Wiedervereinigung träumten. So schildert der Roman „Nachbarn“ einen Ausschnitt deutscher Gegenwartsgeschichte, die sich so oder ähnlich überall in der Republik zugetragen haben könnte. Dabei ist es der Autorin gelungen mit den realistisch gezeichneten Charakteren und durch schnelle Wechsel in unterschiedliche Handlungsstränge den Leser nicht nur zu unterhalten, sondern regelrecht zu fesseln, wobei sie ihm am Ende noch ausreichend Raum für eigene Gedanken zu dem Thema Nachbarn gewährt.

Nachbarn von Madeleine Prahs

Nachbarn
dtv 2014
Hardcover mit Schutzumschlag
352 Seiten
ISBN 978-3-423-28036-5

Bildquelle: dtv
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