Der Biss von Florian Scheibe

Der BissFür finanziell gut aufgestellte Menschen ist es ein Leichtes, sich in Ermangelung existentieller Sorgen für Biofleisch und -obst, geringeren CO2-Ausstoß oder weniger Plastikmüll einzusetzen. Doch wie leicht verlieren sie ihre Mitmenschen aus den Augen, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen?

In dem Roman „Der Biss“ von Florian Scheibe haben sich David und die Psychologin Sybil nach der Geburt ihres Sohnes Jonas darauf geeinigt, dass sie weiterhin in ihrem Beruf arbeitet, währenddessen er den Haushalt organisiert und Jonas versorgt. Seit der Geburt vor zwei Jahren haben sie nur selten Sex, was besonders David bedauert. Beide wollen die Welt verbessern und leben in einem eingezäunten Wohnkomplex in Berlin mit ausgezeichneter Ökobilanz: Die aus Mineralglas gefertigten Fenster sorgen dafür, dass gespeicherte Energie ins Stromnetz geführt wird, die Häuser verfügen über eigene Klärsysteme sowie eine Biogasanlage und die Anwohner haben sich verpflichtet, batteriebetriebene Autos zu fahren.

Eines Tages, als David mit dem zweijährigen Jonas auf den Spielplatz geht, nimmt ein etwa gleichaltriger Junge Jonas Sandspielzeug, worauf dieser beharrlich und lauthals darauf besteht, dass die Förmchen ihm gehören. Doch der fremde Junge lässt sich das nicht gefallen und beißt Jonas, noch bevor David die Situation erfasst, in den Arm. Nachdem es ihm endlich gelingt, den Jungen von seinem blutig gebissenen Sohn zu trennen, entsteht zwischen ihm und dem rumänischen Vater des Jungen ein lautstarker Wortwechsel, bei dem keiner die Sprache des anderen versteht. Als Sybil später wissen will, wieso ihr Sohn einen Verband trägt, verschweigt David ihr die Details.

Das aus Rumänien stammende Ehepaar Aurica und Petre wurde vor vier Monaten von Dacian nach Deutschland gelockt mit dem Versprechen, dass er ihnen Arbeit und eine Wohnung besorgt. Doch in der Realität angekommen müssen sie sich mit ihrem kleinen Sohn Nelu in Berlin ein Zimmer mit einer vierköpfigen Familie teilen. Das Bad und die Küche beanspruchen noch mehr Menschen und im baufälligen Haus mit defekter Heizung und Schimmelbefall leben Ratten. Aurica, die ein Medizinstudium beginnen wollte, geht für die Probearbeit in einer Putzkolonne leer aus und fühlt sich beim Verkauf der Obdachlosenzeitung wie eine Bettlerin. Ihr Mann Petre war Koch und wird für die Schwarzarbeit bei kräftezehrenden Umzügen mit einem Hungerlohn abgespeist. Als er mit Nelu an die Luft geht, nickt er erschöpft kurz ein. Er findet seinen Sohn auf einem Spielplatz und sieht sich plötzlich einem wütenden Vater gegenüber, versteht überhaupt nicht, warum der sich so aufregt und schlägt ihn.

Seit diesem Tag ist Jonas, der konsequent vegan ernährt wurde, ein anderes Kind, das seine Eltern mit Wutanfällen tyrannisiert. Sybil muss nicht nur das ertragen, sondern auch noch einen sinnverzerrenden Zusammenschnitt ihres Vortrages für eine Talkshow. Zudem schwindet ihre Liebe zueinander. Ganz andere Sorgen haben unterdessen Petre und Aurica, die sich mit anderen Rumänen gegen Dacian zur Wehr setzen, mit der Konsequenz, fortan unter freiem Himmel im Wald leben zu müssen. All ihre Hoffnungen haben sie verloren, immer neue Schicksalsschläge müssen sie verkraften und ihre Ehe droht zu zerbrechen.

Im steten Wechsel schreibt Florian Scheibe von den dramatischen Ereignissen auf Seiten der Familie von Sybil und David mit Jonas sowie von Petre und Aurica mit Nelu, wobei er das Geschehen quasi aus der Perspektive des anderen wiederholt. Der Autor hat auf eindrucksvolle Weise deutlich gemacht, wie verschieden das Leben verläuft, wenn man auf der Sonnenseite sitzt oder halt im Dreck, ohne Unterstützung, mittellos und kaum Möglichkeiten hat, sich gegen bestehendes Unrecht zur Wehr zu setzen. Sein wendungsreicher Roman „Der Biss“ weckt von der ersten Seite an das Interesse des Lesers und wirkt noch lange nach!

Der Biss von Florian Scheibe

Der Biss
btb Verlag 2022
Hardcover mit Schutzumschlag
446 Seiten
ISBN 978-3-442-75908-8

Bildquelle: btb Verlag
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