Der Begabte von Evelyn Grill

Der BegabteWolfgang Eder ist nicht nur für seinen Opa ein kleiner Mozart. Auch wenn er in der Kirche auf der Orgel spielt, ist er für alle im Ort „Der Begabte“. Doch Wolfgang weiß überhaupt nicht, warum er seit nunmehr einer Woche in einer Zelle sitzt. Er hat auch keine Erklärung dafür, warum sich sein Opa von ihm abgewandt hat und ihn seit der Verhandlung verleugnet. Wolfgang ist davon überzeugt, dass es sich um einen Justizirrtum handeln muss. Sein Anwalt sagt ihm, dass das Urteil noch nicht rechtskräftig ist, er Berufung einlegen wird und er rät ihm, mit der Psychologin zu reden, da das andernfalls bei den Geschworenen keinen guten Eindruck hinterlässt.

Evelyn Grill hat für ihren Roman den Erzählstil gewählt. Das aktuelle Geschehen, die Haftunterbringung von Wolfgang Eder, dem der Hofgang eine willkommene Abwechslung ist, wird ohne Übergänge durch Details aus dem Leben ihres Protagonisten unterbrochen. So erfährt der Leser, dass sein Opa im Dorf ein hochangesehener Bürger ist, der als Direktor eine Schule geleitet hat. Wolfgangs Mutter soll er aus dem Haus gejagt und seinen Enkel adoptiert haben, so dass dieser bei den Großeltern aufgewachsen ist. Zu Katharina, die Wolfgang auf dem Internat kennenlernte, musste er den Kontakt abbrechen, denn das war die Bedingung seines Opas für seine weitere Förderung. Für Freunde hatte er nie Zeit, da er immerzu auf dem Klavier üben musste und sein Ziel war ein Musikstudium am Bruckner-Konservatorium.

Der Plot verzichtet fast völlig auf den Gebrauch der wörtlichen Rede. Nur wenige kurze Sätze, die man an einer Hand abzählen kann, finden sich auf den letzten Seiten. Dass es der Autorin dennoch gelingt, den Leser auf den weiteren Handlungsverlauf neugierig zu machen, ist ihrem eindringlichen Sprachstil geschuldet. Das Augenmerk fokussiert sie auf den in einer Zelle einsitzenden jungen Musiker, der sich sehnlichst ein Klavier wünscht, um seine Fingerfertigkeit nicht einzubüßen. Wie sich der Protagonist immer wieder selber fragt, warum man ihn in eine Zelle gesperrt hat, so lässt die Autorin auch den Leser darüber lange Zeit im Ungewissen. So langsam, wie sich eine Katze einer Maus nähert und den Kreis immer enger zieht, so offenbart Evelyn Grill in ihrem Roman „Der Begabte“ erst ab dem letzten Drittel den Grund für die Inhaftierung, und der Leser beginnt zu ahnen, dass sich ein fürchterliches Verbrechen zugetragen haben muss. Eine geniale Inszenierung!

Der Begabte von Evelyn Grill

Der Begabte
Residenz Verlag 2019
Hardcover mit Schutzumschlag
152 Seiten
ISBN 978-3-7017-1709-5

Bildquelle: Residenz Verlag
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